Kühne Überlegungen und notwendiges Vergessen#
(Zu einem Vortrag von Hermann Maurer)#
von Martin Krusche
Der Kinosaal ist voll. Da geht einer vor das Publikum hin, spricht. Kein Multimedia-Getöse im Raum, keine szenischen Wow-Effekte. Auf der Leinwand bloß Stichworte. Ab und zu stehende Bilder, um etwas zu veranschaulichen. Wissenschafter Hermann Maurer hat die Situation auf etwas Grundlegendes in menschlicher Gemeinschaft reduziert. Jemand erzählt, jemand hört zu. Mikrophon und Lautsprecher sind bloß ein Zugeständnis an den großen Saal und die vielen Menschen.
Warum ich diese Kommunikationssituation vorweg so betone? Sich ausdrücken, Ideen vortragen, seine Gründe nennen. Debattieren. Es tut mir gut, einen so klaren Modus zu erleben. Ich neige seit Jahren zunehmend zu Abwehrreaktionen, wenn mir Inhalte mit allerhand Brimborium, süßen Tönen oder aalglatten Renderings reingedrückt werden sollen.
Ich misstraue den Sirenentönen und betörenden Auftritten von allerhand Selbstoptimierern. Statt dessen möchte ich ein Gefühl bekommen, was jemanden bewegt. Ich war dann überrascht, zwischen ein so großes Publikum zu geraten.
Das Thema des Abends bewegt Menschen offenbar im mehrfachen Sinn des Wortes: „Neue Technologien, die unsere Welt verändern könnten“. Gerhard Huber hatte Hermann Maurer (TU Graz) eingeladen, seine Ansichten vorzutragen. Das Grazer Annenhofkino erwies sich als der passende Rahmen.
Ich will hier nicht im Detail auf die Inhalte des Vortrags eingehen, auf Maurers Schlussfolgerungen und Thesen, die stellenweise kontroversiell aufgenommen wurden. Mich interessiert das Grundlegende, wo es für unser Projekt „Mensch und Maschine“ relevant sein mag.
Da gibt es einen speziellen Aspekt, auf den man in der Begegnung mit Maurer immer wieder hingeführt wird: Wir sind schlechte Propheten. Blickt man auf die letzten hundert Jahre zurück, lässt sich leicht feststellen, dass uns einerseits atemberaubende Dinge angekündigt wurden, die dann nicht gekommen sind. Andrerseits hat sich unsere Welt radikal verändert, sogar innerhalb unserer Biographien, aber viele fundamentale Neuerungen hat niemand kommen gesehen.
Maurer rät deshalb keineswegs von kühnen Überlegungen ab. Im Gegenteil. Aus der Vergangenheit leitet er her, dass in wenigen Jahrzehnten technische Lösungen, die uns heute wie Wunder vorkommen und unmöglich erscheinen, als ganz normal gelten werden.
Ich strapaziere zur Anschauung dieses Umstandes gerne das erste Mobiltelephon meines Sohnes, ein etwas ramponiertes Stück, welches ich aus meinem Gebrauch ausgemustert hatte. Seine Rechenkapazität war um ein Vielfaches höher als jene der Bordanlage der ersten Mondlandefähre. Der Apollo Guidance Computer AGC von 1969 verfügte über 74 Kilobyte Speicherplatz, hatte vier Kilobyte Arbeitsspeicher und wurde von einem Prozessor mit 1,024 MHz Taktfrequenz gelenkt. Der Rechner wog rund 30 Kilo.
Ein etwas romantischeres Beispiel ist im Bau der Semmeringbahn angelegt. Der Ingenieur Carl Ritter von Ghega, übrigens ein Sohn albanischer Eltern, in Venedig geboren, legte stellenweise Trassen an, deren Steigung zum Zeitpunkt des Baues noch von keiner verfügbaren Lokomotive bewältigt werden konnte. Ghega setzte auf den technischen Fortschritt und ging davon aus, dass entsprechende Maschinen in absehbarer Zeit verfügbar sein würden.
Sie kennen vielleicht jenes zutiefst österreichische Bonmot, da jemand mit einer Idee ankommt. Sein Gegenüber bemerkt: „Das ist eine großartige Idee.“ (Pause) „Aber das wird leider nicht gehen.“ Darüber sollten wir wenigstens ab und zu hinauskommen. Maurer ermutigt, wie erwähnt, zu kühnen Überlegungen und empfiehlt dabei, Grenzen ohne Scheu zu betrachten. Er meint: „Wir bilden uns ein, das Wichtigste schon zu wissen, aber in Wahrheit verstehen wir fast nichts.“
Da spricht wohl auch der versierte Wissenschafter. Wie sollte er im Denken je Neuland erreichen, wenn es ihm nicht gelänge, einigermaßen entspannt an dem zu zweifeln, was er aktuell zu wissen glaubt? Damit stehen wir freilich vor mächtigen Herausforderungen.
Ein Beispiel ist der unermessliche Energie-Hunger industrialisierter Gesellschaften. Wo wir Energie vielleicht günstig bereitstellen können, fehlen uns effiziente Verfahren, sie zu speichern. Wärmeenergie, kinetische Energie, elektrische Energie, Licht; wieso kann man nicht in eine Dose leuchten, diese verschließen und das Licht so aufbewahren?
Maurer macht übrigens klar, dass Technik nie ambivalent sei. Sie finde in einem Spektrum statt, das allemal von „fast nur gut“ bis zu „nur schlecht“ reicht. An einer Stelle des Vortrags meint Maurer, dass ständiges Vergessen regieren würde. Unsere kognitiven Fähigkeiten nehmen beim permanenten Gebrauch dieser unserer Werkzeuge ab. Das steht außer Frage. Und das ist ganz normal. Seit Jahrtausenden.
Wäre das unser Untergang, hätten wir längst untergehen müssen. Ein Beispiel aus der Antike. Laut Platon hat schon Sokrates, angesichts der aufkommenden Schriftkultur, deutliche Vorhersagen getroffen, wie sehr uns diese damals neue Kulturtechnik in die Vergesslichkeit stürzen werde. In seinem Dialog mit Phaidros kommt das zur Sprache.
In der Übersetzung von Ludwig Georgii klingt es ein wenig sperrig, ist aber aufschlussreich: „Denn Vergessenheit wird dieses in den Seelen derer, die es kennenlernen, herbeiführen durch Vernachlässigung des Erinnerns, sofern sie nun im Vertrauen auf die Schrift von außen her mittel fremder Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst, das Erinnern schöpfen.“
Natürlich haben wir die Verluste überwunden und neue Fertigkeiten entwickelt. Ich verkürze: Technologie nimmt uns Arbeit ab. Dabei verlernen wir Dinge, verlieren wir Kompetenzen. Das sind banale soziokulturelle Vorgänge. Sie machen uns zugleich prinzipiell neue Optionen frei, um dafür neue Möglichkeiten zu erschließen. Wir sind allerdings gefordert, stets wieder zu klären, was wir von den altvertrauten Kompetenzen erhalten möchten, selbst wenn sie zum Beispiel augenblicklich nicht marktfähig sind.
So hab ich nun, quasi im Vorbeigehen, auch das Thema Volkskultur berührt. Volkskultur widmet sich unter anderem solchen Fragen, weitgehend unberührt von Marktlagen und akademischen Debatten. Dieser Themenbezug wird vielleicht manchen nicht gleich einleuchten, aber es soll hier noch dieser und jener Anlass greifbar werden, um der Verknüpfung gründlicher zu folgen. Damit bin ich jetzt schon ein erhebliches Stück von Maurers Grazer Vortrag entfernt, aber mitten in unserem Projekt „Mensch und Maschine“.
Zurück zum Abend im Annenhofkino. Maurer stellte lapidar fest: „Wir sollten akzeptieren, Technologie hat immer schon zur Verringerung von Fähigkeiten geführt.“ Er nennt als nötige Konsequenz „Wir müssen alles tun, um kreatives Denken und kreatives Kommunizieren zu erhalten.“ Daran kann uns niemand hindern, darin macht uns keine Maschine überflüssig.